Reallabor

Ein brachliegendes Gelände in Oßmanstedt ist Angelpunkt, Sitze und erstes Projekt des Instituts für Graue Energie. An der Bahnstrecke zwischen Weimar und Apolda in Thüringen gelegen, wurden hier Anfang des 20. Jahrhunderts Lagermöglichkeiten der Raiffeisengenossenschaft für die umliegende bäuerliche Gemeinschaft geschaffen. Das Gelände war bis 1990 in Nutzung und liegt heute seit über 30 Jahren brach, wobei die Lagerschuppen zusammengebrochen, das Areal überwachsen und nur noch die Trafostation sowie besonders der 1938-1941 errichtete 24 Meter hohe Getreidespeicher erhalten sind.  

Getreidespeicher in Ossmannstedt, Süd-Ansicht

Warum Ossmannstedt?

Der Ort weist eine immense Masse an Baumaterial auf, in der wir ein hohes Potential an grauer Energie und einen CO2-Speicher sehen. 

  • Die spezielle Gebäudetypologie und ihre Lage jenseits der Metropolen erfordert im Sinne der Ressourcenschonung neue Ansätze des Umbauens und Wiedernutzens. 
  • Die weithin erfahrbare Sichtbarkeit als verfallene Landmarke im Ilmtal erfordert eine Neubesetzung und Öffnung des bekannten Ortes. 
  • Der Zeitraum der Entstehung im Nationalsozialismus erfordert eine dezidierte Auseinandersetzung mit weiteren historischen und  gesellschaftlichen Dimensionen grauer Energie. 

Das Areal in Oßmannstedt ist ein Beispiel für als unbequem wahrgenommenes Erbe, wie es in ganz Europa in ähnlicher Form zu finden ist. Dem Institut für Graue Energie dient das Areal als Reallabor zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit grauer Energie. Gleichzeitig ist es das Zentrum und Ausgangspunkt des Instituts mit zugehörigem Atelier, Archiv und Plattform für Kooperationen.

Vision

Das Areal wird durch seinen Charakter als Reallabor langfristig wieder genutzt, neu bewertet und adaptiv umgedeutet. 

Die bauliche Produktion eines Getreidespeichers aus Stahlbeton ist mit erheblichem Aufwand an Ressourcen verbunden. In Zukunft werden Bauprojekte wie dieses nur zu hohen gesellschaftlichen und finanziellen Kosten möglich sein. Ein Abbruch oder ein kompletter Umbau – zum Beispiel als Wohnturm – wäre so nicht zu rechtfertigen. Langfristig wird die Rückwidmung des Geländes als landwirtschaftliche Nutzfläche als ökonomisch und ökologisch sinnvollste Nutzung angestrebt. Die Zwischennutzung des Instituts dient der Erhaltung des Gebäudes über diese Dauer hinweg. 

Um diese Vision möglich zu halten, braucht es schrittweise, kleinstmögliche und reversible Eingriffe entlang der Grundstruktur des Gebäudes. Die Strategien des Ateliers sollen im Reallabor in radikaler Form erprobt werden, sodass für die größtmögliche Nutzung ein Mindestmaß an Energie aufgebracht werden muss.

Projektablauf

Nachdem der Kaufprozess nach etwa einem halben Jahr abgeschlossen wurde, können wir im Juni 2021 mit ersten Arbeiten auf dem Gelände beginnen.

Derzeit führen wir eine detaillierte Bestandsaufnahme der Fläche durch. Im Mittelpunkt steht die Suche nach grauer Energie vor Ort. Vorhandene Materialien und Strukturen sowie bisherige Aneignungen und Transformationen durch Natur und Mensch werden erkannt, verstanden und aufgewertet.  

Parallel wird in der ehemaligen Trafostation eine Keimzelle für die kommenden Nutzungen entstehen. Diese beinhaltet eine Schlaf-, Wasch- und Kochmöglichkeit. Von hier aus beginnt die Transformation des Areals. 

Die ersten Arbeiten sehen in erster Linie eine Sortierung, Umlagerung und wenn nötig Entsorgung gefährlicher Materialien vor. Dazu entwickeln wir ein Konzept für den Umgang mit vorhandener Flora – besonders Ruderalvegetation – und Fauna – das Gelände ist auch ein Biotop für Insekten und Kleintiere. Um die Gebäude werden lediglich Teilflächen und ein Reparaturstreifen freigeräumt, um ein Gerüst aufzustellen. In der Folge ist eine Notsicherung der Gebäude, insbesondere der Ausbesserung des Speicherdaches vorgesehen. Ab diesem Zeitpunkt ist bereits eine Öffnung des Areals für experimentelle und kulturelle Aneignungsformen möglich. Erste Gespräche mit Kooperationspartner:innen finden statt, wie zum Beispiel mit dem TRAFO Jena, der Initiative Fabrik.Weiterstricken in Apolda oder dem Godot-Komplex Weimar.

Die erste Nutzung des Speichers soll im sogenannten Trichterraum im Erdgeschoss beginnen. Der derzeit komplett vermauerte Raum wird Stück für Stück entlang ursprünglicher Fenster und Türen geöffnet und die Zugänglichkeit zum Gebäude ermöglicht werden. Das nun belichtete Erdgeschoss wird das Atelier und zugleich einen niedrigschwelligen Ausstellungs- und Diskussionsraum des Instituts beherbergen, der explizit als Lern- und Begegnungsort geöffnet wird – denkbar wären Kooperationen mit der Klassik Stiftung Weimar, die im Wielandgut bereits in Oßmannstedt vertreten ist, oder den Hochschulen aus Weimar, Erfurt oder Jena.  

Die Trafostation wird zum Ausgangspunkt der Entwicklung

Ein weiterer Eingriff ist im Bereich über dem Trichterraum angedacht, der neben dem Treppenhaus 13 Silozellen mit zwölf Metern Höhe beherbergt. Die größte dieser Zellen soll zur Erprobung der Archivnutzung genutzt werden. Dazu soll in die »Graue Zelle« eine Subsidärstruktur eingestellt werden, die als nicht-öffentlicher Raum der Lagerung von Archivalien und Literatur dient. Da eine Heizung derzeit nicht angedacht ist und das Archiv keine thermische Energie benötigt, konzentriert sich der aktive Nutzungszeitraum auf den Sommer. 

Weitere Nutzungen werden sich erst mit der Verwertung der dort befindlichen Materialien ergeben. Dies betrifft beispielsweise den Keller, in dem bisher Reifen liegen und der sich als Werkstatt eignen würde oder die Brache der Lagerschuppen, auf der sich bisher Ziegelsteine und Betonbruch befindet und die als überdachte Freifläche mit verschiedenen Nutzungen fungieren könnte. Bis dahin dienen die Flächen als CO2-Speicher.