Was ist Graue Energie?

Bauen verbraucht eine riesige Menge Ressourcen. Für deren Herstellung wird vor allem eins benötigt: Energie. Sie wird für Herstellung, Transport und Montage von Baustoffen in Gebäuden aufgewendet. Dadurch wird diese in Gebäuden gewissermaßen gespeichert. Der unsichtbare Energieaufwand wird Graue Energie genannt.

Diese Energie wird in den letzten Jahren zunehmend über den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden betrachtet. Das ist zum Beispiel wichtig, wenn die Energieeffizienz von Gebäuden bewertet oder Abbruch und Neubau diskutiert wird. Graue Energie ist dabei ein wertvolles Argument für den Bestandserhalt. Wir finden aber, dass in bestehenden Gebäuden mehr steckt als nur Primärenergie.

So betrachten wir das Konzept der Grauen Energie aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und baupraktischen Blickrichtungen als eine gesellschaftliche Ressource. Und entwickeln daraus eine klare Haltung – in der Forschung, in der Vermittlung, in der Planung und auf dem Bau.

Lebenszyklus

Graue Energie im engeren Sinn bezeichnet dabei die Primärenergie, die benötigt wird, um einen Gegenstand oder ein Objekt herzustellen. Die aus diesem Prozess resultierenden Emissionen werden demzufolge auch als Graue Emissionen bezeichnet. 

Im Englischen sagt man zu Grauer Energie auch embodied energy, was man wohl am besten mit gebundene Energie übersetzen würde. 

Das Prinzip der Grauen Energie verweist darauf, dass diese Energie unserer gestalteten Umwelt praktisch »innewohnt«. Die dahinterstehende Idee ist simpel: Wer Ziegel brennt, Stahl gießt oder Stoffe transportiert, benötigt dafür Energie und produziert Emissionen.

Ursprünglich kommt der Begriff der Grauen Energie aus der Bauwirtschaft. Hier ist der Energieeinsatz prinzipiell sehr hoch, wobei der Bau- und Gebäudesektor in Deutschland etwa ein Drittel der CO2-Emissionen ausmacht. Die Immobilien-Ökonom:innen benutzen ihn daher schon lange, um die Herstellungsenergie von Bauwerken zu bezeichnen. 

Wenn man nun über die Energieeffizienz eines Gebäudes diskutiert, hat man häufig nur die Betriebsenergie – und hier vor allem die Heizkosten – vor Augen. Die »Gesamtenergiebilanz« eines Gebäudes schließt jedoch sowohl die Betriebsenergie als auch die Graue Energie ein. Bisher werden diese Berechnungen immer noch mit einem Lebenszyklus von 50 bis 80 Jahren angesetzt. Dabei betrug das Verhältnis bislang etwa 50:50. 

Durch die zunehmend energetische Sanierung von Gebäuden – zum Beispiel durch verbesserte Dämmstoffe und Heiztechnologien – sinkt die Betriebsenergie, der Anteil der Grauen Energie steigt. Im Zusammenhang mit zunehmenden Engpässen der Bauwirtschaft gewinnt sie gesellschaftlich an Bedeutung. 

Langsam setzt daher ein Umdenken ein: Immer häufiger ziehen Planer:innen nun die Energiemengen in die Betrachtung mit ein, die das Gebäude über seinen gesamten »Lebenszyklus« benötigt, also von der Planung über die Errichtung, die Nutzung bis hin zum Abriss. 

Ressourcen

Durch Herstellung, Transport, Lagerung, Montage und letztlich auch Entsorgung von Baumaterialien gehört das Bauwesen zu den ressourcenintensivsten Wirtschaftszweigen unserer Volkswirtschaft! Zusätzlich ist diese Energie häufig fossilen Ursprungs. Es lassen sich nur wenige Baustoffe mit erneuerbaren Energiequellen und aus nachwachsenden Rohstoffen herstellen, transportieren und verbauen. 

Viele Baustoffe wie Glas oder Stahl sind generell stark begrenzt oder wie Beton enorm ressourcenaufwendig. Lokale Wertschöpfungsketten aus wiederverwendeten und vor Ort befindlichen Baustoffen sind hierzu ein zentraler Lösungsansatz. Dazu gehört zum Beispiel auch das »Recht auf Reparatur« für Gebäude. 

Der Abbruch von Gebäuden führt zu Emissionen und zu gigantischen Abfallmengen, die zumeist deponiert oder downgecycelt werden. In Deutschland ist das Bauwesen kontinuierlich für etwa die Hälfte des gesamten Abfallaufkommens verantwortlich. Daher fordern Expert:innen zunehmend, dass Abbruch die Ausnahme und nicht die Regel sein sollte. Hierfür werden zunehmend auch temporäre Sicherungen und Zwischennutzung in Kauf genommen. 

Mit dem Blick in eine eher ungewisse Zukunft können wir nicht sicher voraussehen, welche Gebäude in 20 bis 30 Jahren noch benötigt oder neu errichtet werden könnten. Der bauliche Bestand kann insbesondere bei produktiver (Wieder)Innutzungnahme einen wertvollen volkswirtschaftlichen Wert für die Gesellschaft darstellen.

Werte

Obwohl die Graue Energie prinzipiell schon lange als Ressource erkannt wurde, fehlt es stellenweise noch an konzeptionellen Überlegungen zu ihrer Inwertsetzung. Das ist kein Problem, schließlich stehen wir noch ganz am Anfang der Transformation. Wir wollen aber über die Berechnung der anteiligen Primärenergie im Lebenszyklus hinausgehen und danach fragen, wie wir zu einem differenzierten Bewerten von Bausubstanz übergehen können. 

Unser Fokus liegt dabei auf den Bestandsgebäuden und dem Bauen im Bestand. Denn: Trotz energiesparender Techniken wird im Neubau wiederum Graue Energie gebunden. Andererseits stehen viele Gebäude leer und sind nach wie vor vom Abriss bedroht: Gebäude, die bereits  durch den Einsatz von großen Energiemengen errichtet worden sind. So gehen wir davon aus, dass die Wieder- oder Umnutzung bestehender Gebäude im übertragenen Sinne eine Erneuerung von Grauer Energie darstellt. 

Nicht nur wurde die Energie eines Bestandsbaus reaktiviert, sondern im besten Fall auch verhindert, dass dafür ein neues Gebäude errichtet werden muss. So offenbaren sich die Werte scheinbar nicht mehr benötigter Architekturen. Der Betonturm am Straßenrand, der leerstehende Plattenbau, die Fabrik, die alle nur als lost place kennen, oder das Einfamilienhaus der Großeltern – alles fassen wir unter der »Ressource Grauer Energie«.

Erzählungen

Wir finden, dass Gebäude mehr sind als bloße Energieträger. Ganz ohne Zweifel beweisen immer mehr Planende und Bauende eindrucksvoll, wie selbstverständlich es mittlerweile geworden ist, im Bestand zu bauen – sogar wenn der Vorgängerbau nicht unter Denkmalschutz steht. Im Zeichen steigender Energie- und Materialkosten im Bausektor kann das auch der wirtschaftlichste Ansatz sein.

Aber nicht nur das macht leerstehende Gebäude zum Potenzial. Oft sind es Bauten, die an sehr prominenten Stellen stehen und verfallen, vormals öffentlich waren und einer produktiven Nutzung dienten. Diese sind häufig mit vielfältigen, teilweise sogar widersprüchlichen Erinnerungen verbunden. Was die Menschen vor Ort mit den Gebäuden verbinden, ist so unterschiedlich wie die Wohn- und Arbeitsbiografien jedes einzelnen. 

Dabei stehen alte Fabrikgebäude, leerstehende Wohnhäuser oder verfallende Infrastrukturbauten oft in Verbindung zu persönlichen Lebenswegen: Als Arbeitsstätten, Wohnorte oder Abenteuerspielplätze der Kindheit und Jugend: Ihr Abriss bedeutet häufig auch ein Verlust an Erinnerung und Erbe. 

Andere wiederum betrachten die Häuser mit den toten Fenstern als Schandfleck. Manchmal ist ihre Geschichte auch durch den politischen Kontext ihrer Errichtung oder Nutzung belastet. Da scheint der Abriss als letzte Lösung. Aber: mit dem Abriss geht auch der Verlust einer Reihe von Ressourcen einher. Das sind Energiemengen, ja. Diese lassen sich in Megajoule auch beziffern. Aber es sind meistens auch landschaftliche, kulturelle oder soziale Werte, die zerstört werden. 

Wir setzen uns dafür ein, dass diese Bauten auch jenseits von Denkmalschutz einer Neubewertung unterzogen werden. Denn gerade diese Gebäude verdienen eine neue Erzählung – als Orte des Aufbruchs, als Orte der Transformation, als Anker der lokalen Identität, im Wissen darum, dass diese Identität nur als Vielfalt zu denken ist.  

Haltungen

Kann Graue Energie mehr sein als eine Anzahl an Megajoule? Was kommt nach der EnEV/GEG? Was ist, wenn wir versuchen, konsequent das zu erhalten, was da ist? Kann es den radikalen Bestandserhalt geben? Welche konzeptuellen und architektonischen Lösungen entstehen, wenn wir uns jeden Nutzung nur als Zwischenlösung vorstellen? Wie baue ich Gebäude um, ohne ihnen die Zukunft zu verbauen? Sind neue Wertschöpfungsketten im ländlichen Raum denkbar? Was ist schon da, wo es hingehört? Was ist rural mining? Wie denkt man das Gebäude aus der Landschaft heraus? Und wie bindet man seine Geschichte ein? Kann eine Inwertsetzung ökonomisch, aber auch sozial funktionieren? Was können wir rückgängig machen, ohne es abzureißen?

Als eingetragener Verein stellen wir uns dieser Herausforderung. Wir haben uns zusammengeschlossen, weil wir viele Fragen haben. Und weil wir Antworten danach suchen.